Gib mir Zuckerbrot

Kaum etwas verführt Menschen so sehr wie reiner Zucker. Kein Wunder, begründete er ein Weltreich – und steckt heute in fast allem, was wir essen. «Die süsse Macht», Teil 1.

«Du bist also sicher, dass ihr genau vier seid?», fragte sie. «Zwei Adamssöhne und zwei Evastöchter, nicht mehr und nicht weniger?» Und Edmund, den Mund voll mit Türkischem Honig, sagte immer wieder: «Ja, wie ich euch schon sagte», und vergass völlig, sie mit «Eure Majestät» anzureden, doch das schien sie jetzt gar nicht mehr zu stören.
(Die weisse Hexe Jadis bringt Edmund mit einer Schachtel Türkischen Honigs dazu, seine Familie zu verraten: «Die Chroniken von Narnia» von C. S. Lewis, Band 2.)

Es ist Winter, es ist kalt, und beim nächsten Einkauf wird es kein Entkommen geben. Sie tanzen um uns herum wie die Figuren in Tschaikowskys «Nussknacker»: Schokoladen­kläuse, Marzipan­tiere, Zuckerfeen. Sie glitzern und knistern, bis wir fallen. Ihm verfallen: dem Zucker.

Die Menschheit verzehrt mehr davon denn je zuvor.

In der Schweiz schluckt heute jede Einwohnerin täglich im Schnitt 27 Würfelzucker (die je ca. 4 Gramm wiegen) – eine Hochrechnung, die wahrscheinlich noch zu tief ist. Die Hälfte davon essen wir bewusst: als Schokolade, Torten oder andere Süssigkeiten. Die andere Hälfte versteckt sich mehr oder weniger offensichtlich: ein weiteres Drittel in Süssgetränken; der Rest in Joghurt, Müesli, Brot, Fertig­gerichten, Saucen, Suppen oder Gewürzen.

«Zucker», sagt die Köchin und Essforscherin Susanne Vögeli, «ist einfach überall.»

Die wirklich gute Frage ist: Warum?

Eine der rührendsten Wirtschafts­geschichten, die sich Menschen gerne erzählen, ist die vom unbefleckten Markt: Produkte entspringen aus dem Nichts, wenn sich nur möglichst niemand in den göttlichen Lauf der Dinge einmischt. Einfach so, weil Menschen Bedürfnisse haben und jemand anderes sich der Aufgabe annimmt, diese Bedürfnisse zu stillen.

Menschen lieben das Süsse von Geburt an. «Bereits Neugeborene reagieren freundlich auf Süsses», sagt Ernährungs­wissenschaftlerin Christine Brombach. Der süsse Geschmack signalisiert uns einen hohen Energie­gehalt – etwas, was der winzige Mensch, unfertig geboren, dringend braucht. Muttermilch ist süss. Süss bedeutet Überleben und ist für uns darum uneingeschränkt gut. Alles andere auf der Geschmacks­palette ist anspruchs­voller. Insbesondere Bitter­stoffe können auch Gefahr bedeuten; den Umgang damit müssen Menschen darum im Laufe der Jahre vorsichtig lernen.

Kein Wunder also, so die unschuldige Erzählung, gibt es eine weltweite Zucker­industrie. Denn Menschen mögen Zucker. Sehnen sich nach Zucker. Also erfüllen unternehmerische Menschen diese Sehnsucht – so ist der Lauf der Dinge.

Die Wirklichkeit ist ambivalenter. Und politischer.

Märkte entstehen nicht magisch aus dem Nichts. Sie werden geschaffen: mit viel Ehrgeiz, massiven Investitionen an Geld und sehr oft mit institutionalisierter Macht im Rücken – also mithilfe von König, Kirche oder Staat.

So war es auch im Fall von Zucker.

Die zwei Säulen des Empire
Menschenkinder tranken immer schon die Milch ihrer Mütter und Ammen. Die Schriften verschiedener Religionen schwärmten stets von Ländern voll von Milch und Honig. Und schon einige Jahrhunderte lang, man vermutet zunächst in Indien und Persien, später auch in Nordafrika und rund um das Mittelmeer, gewannen die Menschen auch Zucker aus dem Zucker­rohr, wie etwa der Anthropologe Sidney W. Mintz in seiner Kultur­geschichte des Zuckers aufzeigt.

Sie schlugen Zuckerrohr, pressten den Saft heraus, kochten ihn auf und liessen ihn kristallisieren. Sie nutzten den bröckeligen Zucker oder die dickflüssige Melasse als Medikament: gegen Schnupfen und Husten, anregend und schleimlösend, nicht empfohlen für junge Männer und hitzige Temperamente. Oder als Gewürz zusammen mit Zimt, Safran oder Sandelholz. Kurz: Zucker, das war eine teure Exklusivität für reiche und wichtige Leute.

So etwas wie ein Zuckermarkt für die Massen entstand erst im 19. Jahrhundert.

1830 produzierte der Weltmarkt 572’000 Tonnen Zucker.

1860: 1,4 Millionen Tonnen (eine Verdopplung).

1890: über 6 Millionen Tonnen (eine Vervierfachung).

(Die Zahlen wie die folgenden historischen Absätze stammen aus beziehungsweise sind angelehnt an: Sidney W. Mintz, «Die süsse Macht – Kulturgeschichte des Zuckers» (Campus, 1985))

Was währenddessen passierte: das britische Empire.

Und der grosse Durchbruch gelang dem Zucker auch nicht allein, sondern in Symbiose mit dem Tee.

Ab 1600 baute die British East India Company in Indien und Ostasien das auf, was später zum britischen Kolonial­reich werden sollte. Die Company war von der Königin offiziell ausgestattet mit Monopol­rechten und vom Parlament abgesichert, gestützt und privilegiert, wie inzwischen gut dokumentiert ist. Ab dem 18. Jahrhundert baute die Company in Indien eine Gross­produktion von Tee auf und überschwemmte damit den europäischen Markt und den der amerikanischen Kolonien. (Jedenfalls, bis man ihn 1773 in Boston aus Protest gegen die alte Heimat im Meer versenkte.) «Ein grosses Reich bloss zu dem Zweck», spottete damals der Philosoph Adam Smith, «ein Volk von Kunden heranzuziehen.»

Um dem Tee die Bitterkeit zu nehmen – und zu weiterer zweifelhafter Ehre der Krone –, schiffte die britische Handels­flotte zur selben Zeit Zucker aus den Sklaven­plantagen in Barbados oder Jamaika ein. Zusammen besassen Tee und Zucker eine Eigenschaft, die wesentlich war für den Aufbau eines Massen­marktes: Gesüsster Tee liess sich strecken – bis sich ihn auch die verarmten Arbeiter zu Hause leisten konnten.

Billiger Tee aus dem Osten, billiger Zucker aus dem Westen und zu Hause ein wachsender Absatzmarkt: Die Kombination daraus war die perfekte Geldmaschine. Und der Beginn eines globalen Milliarden­marktes.

Das begriff auch die Konkurrenz.

Im Zuckerrausch
Neben den Briten stürzten sich im 18. Jahrhundert auch alle anderen Grossmächte auf den Zucker. Frankreich baute in Haiti an, die Niederländer in Surinam, die Portugiesen in Brasilien, die späteren USA auf Kuba und in Puerto Rico. In Deutschland entwickelten Wissenschaftler ein Verfahren, um Zucker aus Rüben zu gewinnen – auch hier als halb wirtschaftliches, halb politisch-strategisches Projekt, finanziert mit Geldern des preussischen Königs. (Und erfolgreich dank Napoleons Verbot des Imports von britischen Waren, das den Rüben­zucker überhaupt interessant machte.)

Als die Sklaverei abgeschafft wurde, machte man mit schlecht bezahlten Leiharbeitern weiter – bis heute gehört das Schneiden des widerspenstigen Zuckerrohrs zu den härtesten Tätigkeiten überhaupt. Und als die monarchistischen Investoren entthront wurden, übernahmen kapitalreiche privat­wirtschaftliche Unternehmen. Automatisierung und industrialisierte Produktion trieben den Output weiter in die Höhe: Heute produzieren Zucker­unternehmen in knapp zwei Wochen die Menge an Zucker, die 1890 in einem Jahr entstand.

Etwas aber änderte sich für die Branche nie: die uneingeschränkte und grosszügige Unter­stützung des Staates.

(...)

(08.01.2022)

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