Die Retourkutsche

Die deutsche Autoindustrie ist arrogant und träge geworden. Sie hat die Trendwende zur E-Mobilität ignoriert, bis es fast zu spät war. Jetzt kämpft sie um ihr Überleben – und mit der Politik.

«Das Auto hat keine Zukunft. Ich setze auf das Pferd.» (Wilhelm II., Deutscher Kaiser, 1859–1941)

Es gibt Momente, da spürt man, dass die deutsche Bundes­kanzlerin Physikerin ist. Wie letzte Woche an der Automesse in Frankfurt. Angela Merkel stellt sich neben den Chef von Mercedes, der ihr sein neustes Modell präsentiert, dann ein paar Stände weiter neben den von Porsche, von VW. Sie beugt sich jedes Mal nach vorn – und stellt Fragen.

«Aha, das Fenster, das funktioniert jetzt hier also wie bei einer randlosen Brille?»

«Eine mobile Batterie, das wär vielleicht was?»

«Ah, die Motorhaube, kann man die denn noch öffnen?»

Die letzte Frage geht an Herbert Diess, gross gewachsen, ernst, schlank, Vorstands­vorsitzender von Volkswagen. Diess zeigt der Kanzlerin einen weissen ID.3, das erste für die Massen produzierte Elektroauto von VW.

Es ist der Wagen, der den Konzern retten soll.

Nur Stunden später ist die Ruhe vorbei. Kaum hat die Messe begonnen, tritt der oberste Chef­lobbyist der Branche ab. Die Kanzlerin und die Konzern­chefs haben sich zurück­gezogen. Die deutsche Öffentlichkeit wird in den folgenden Tagen statt über den Glamour in Frankfurt über Diesel­manipulation, Gelände­wagen und Klimaproteste streiten. Und heute Freitag wird Merkel bekannt geben, ob und wie Deutschland künftig CO2-Emissionen besteuert. Sie liess bereits durchblicken, dass sie in der deutschen Klimapolitik auch Verbote nicht ausschliesse. Für ihre Partei, die CDU, ist das historisch ausser­gewöhnlich. Für die Autoindustrie ein Schock.

Die deutsche Auto­industrie, eine der reichsten und mächtigsten Branchen der Welt, steckt in der grössten Krise seit ihrer Existenz.

Der Druck kommt nicht nur von wütenden Bürgerinnen. Sondern vor allem von der kühlen ökonomischen Realität: Schon das nächste Jahr 2020 wird laut Stanford-Experte Tony Seba der Zeitpunkt sein, an dem Elektro­autos zehnmal billiger im Unterhalt und ein Vielfaches stärker sein werden als Verbrenner. Und das, prognostiziert der Autor, der in den vergangenen Jahren so oft recht hatte, werde das Ende der klassischen Auto­industrie sein.

Wie kann das sein, so, wie die Kinder des 20. Jahrhunderts ihre Karren lieben?

Wir lieben unsere Autos, aber unsere Pferde liebten wir auch, sagt Seba. Und dann hörten wir trotzdem auf, sie zu kaufen.

Am liebsten ein Verkehrsminister
Die Macht der deutschen Autoindustrie kann gar nicht überschätzt werden. Sie produzierte vergangenes Jahr weltweit über 16 Millionen Autos und nahm 426 Milliarden Euro ein. Damit ist sie auch die mit Abstand wichtigste Branche Deutschlands: 830’000 Menschen arbeiten unmittelbar in der Industrie, Hundert­tausende weitere bei hoch spezialisierten Zuliefer­firmen und Partnern – davon gut 30’000 auch in der Schweiz.

Damit sind die Autofirmen auch eine innen­politische Grossmacht. Keine Regierung kann sich leisten, sie zu ignorieren. Doch es ist alles andere als sicher, dass sie in ihrer heutigen Grösse überleben.

Bereits dieses Jahr ist der Absatz der deutschen Autobauer bis im Juli in den wichtigsten Märkten eingebrochen; in China gar um 14 Prozent gegenüber 2018. Daimler, das Mutterhaus von Mercedes, schrieb im zweiten Quartal einen Verlust von 1,6 Milliarden Euro – und warnte seine Investoren im Sommer gleich zweimal innerhalb weniger Wochen, dass die nächste Bilanz schlimm aussehen werde. Auch BMW kündigte schlechte Zahlen an. Solche Gewinn­warnungen sind für an den Börsen gehandelte Unter­nehmen Pflicht, damit alle Anleger gleichzeitig und früh informiert sind.

Wie ernst die Lage ist, zeigt sich auch an der Frankfurter Messe. Kurz nachdem er Kanzlerin Merkel von Stand zu Stand geführt hat, tritt der Präsident des Verbandes der Deutschen Automobil­industrie (VDA), Bernhard Mattes, überraschend zurück. Der jeweilige VDA-Präsident gilt in Deutschland als der mächtigste Lobbyist des Landes. Doch Mattes war offenbar nicht mächtig genug: VW-Chef Diess, so heisst es hinter den Ständen von Frankfurt, habe ihm das Vertrauen entzogen.

Mattes’ Nachfolger soll nach Informationen des «Spiegels» am liebsten ein früherer deutscher Verkehrs­minister werden. So, wie es schon sein Vorgänger war. Denn das war ein höchst erfolgreiches Modell.

Der einstige CDU-Verkehrs­minister Matthias Wissmann wechselte damals 2007 direkt aus dem Berliner Parlament in die Verbands­zentrale. Nur wenige Monate später beschlossen Kanzlerin Merkel und der französische Staats­präsident Nicolas Sarkozy in Eigenregie, die von der EU beschlossenen CO2-Grenzwerte für die Auto­industrie wieder aufzuweichen.

Inzwischen ist das Geschichte. 2014 und 2018 verschärfte die EU-Kommission die Grenzwerte, die dieses Mal auch Deutschland und Frankreich mittragen. 95 Gramm CO2 pro Kilometer sollen Neuwagen bis 2021 höchstens ausstossen, bis 2030 noch einmal um 37,5 Prozent weniger. Die Vorgaben sind mit den traditionellen Verbrennungs­motoren tatsächlich bislang kaum zu erreichen: Im Moment produzieren sie durchschnittlich 130 Gramm CO2 pro Kilometer. Das entspricht genau dem Grenzwert, der heute in der EU und in der Schweiz gilt.

Heimliche Absprachen
Der Tag, an dem die ganze Ratlosigkeit der deutschen Automobil­industrie zum ersten Mal offenkundig wurde, war der 18. September 2015. An jenem Freitag machte die amerikanische Umweltschutz­behörde EPA öffentlich, dass VW mithilfe einer Software seine Dieselautos so manipuliert hatte, dass sie bei Abgastests akzeptable Stickoxid­werte ausstiessen – obwohl sie im tatsächlichen Gebrauch die Grenzwerte teilweise um das 40-Fache überschritten.

Es deutet einiges darauf hin, dass es hier nicht nur um ein einzelnes Versagen von VW ging. Dass es viel grundsätzlicher ist – systemisch.

(...)

(20.09.2019)

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