Alles, was Sie über die AHV wissen müssen

Eigentlich wäre eine Reform gar nicht so schwierig – wären da nicht alte Verletzungen. Eine Analyse kurz vor Bundesrat Alain Bersets neuem Anlauf.

In wenigen Tagen, das hat das Eidgenössische Departement des Innern von Alain Berset angekündigt, startet der Bundesrat einen weiteren Versuch, endlich zu schaffen, woran seit längerem alle gescheitert sind: eine Reform der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).

Berset hat bereits eine Niederlage hinter sich: Letzten Herbst scheiterte seine Vorlage, die Reformen in AHV und betrieblicher Vorsorge zusammengepackt hatte. Knapp, aber dennoch. Berset befindet sich damit in guter Gesellschaft. Seit Jahren bleibt jeder Vorstoss im politischen Schlamm stecken – blockiert von Misstrauen bei Linken wie Bürgerlichen und mehr oder weniger begründeten Sorgen der Bürgerinnen.

Dabei wäre die Reform rein technisch gesehen gar nicht so schwierig – im Prinzip ist allen Fachleuten klar, was zu tun wäre. Die Hürde ist eine andere: die Bedeutung, die sie für die verschiedenen politischen Lager hat.

Die AHV-Reform weckt Misstrauen und Ängste, die weit in die Vergangenheit reichen.

1. Das Problem
Das Problem der AHV ist schnell erklärt: Ihr geht das Geld aus. Knapp 2,3 Millionen Menschen beziehen jeden Monat eine Rente; 1990 waren es ziemlich genau halb so viele, nämlich rund 1,1 Millionen Menschen. Dank dem starken Arbeitsmarkt und unerwartet vielen Zuzügerinnen nimmt die AHV auch ordentlich Geld ein (Sie sehen Ihren eigenen Beitrag monatlich auf dem Lohnausweis, falls Sie einen haben). Und trotzdem: Hätte die AHV nicht in fetteren Jahren Reserven aufgebaut, würde sie bereits heute Verluste schreiben.

2016 verbuchte die AHV einen Gewinn von 438 Millionen Franken. Das klingt nach viel. Ist es aber nicht, weil die AHV riesige Summen verteilt. Sie zahlte im gleichen Jahr 42,3 Milliarden Franken an Renten aus. Das bedeutet: Hätte sie nur 1,04 Prozent mehr auszahlen müssen, wäre sie in die roten Zahlen gerutscht. Das kann sehr schnell passieren – in den letzten Jahren wuchs die ausbezahlte Rentensumme jährlich stets um mehr als das. (2016: 1,9 Prozent, 2015: 2,1 Prozent, 2014: 2,2 Prozent.)

Nun sind Prognosen immer schwierig, weil sie nun mal die Zukunft betreffen. Niemand kann verlässlich sagen, wie viel Geld der AHV fehlen wird. Doch man darf vernünftigerweise davon ausgehen, dass uns der wichtigste Grundtreiber der steigenden Ausgaben erhalten bleibt: die Langlebigkeit der Menschen. Die Schweiz hat die AHV 1948 eingeführt. Seither ist die Lebenserwartung von Männern um 15,1 Jahre gestiegen, jene von Frauen um 14,4 Jahre. Trotzdem ist das Rentenalter von damals, 65 Jahre, für Männer gleich geblieben und für Frauen sogar gesunken.

Gleichzeitig hat die tatsächliche wöchentliche Arbeitszeit abgenommen. Sie ist bei Männern seit 1991 durchschnittlich von 40,6 auf 37,3 Stunden, bei Frauen von 28,3 auf 26,3 Stunden gesunken. Die unbezahlte Arbeit – die lange überhaupt nicht registriert wurde und oft gar nicht erwähnt wird – hat für Frauen von 33,3 Stunden auf 30,1 Stunden abgenommen und für Männer von 17,3 Stunden auf 19,5 Stunden zugenommen.

Taucht man noch tiefer in die Zahlen, lässt sich einiges mehr ablesen. Das Wichtigste ist, dass nichts so simpel ist, wie es scheint. Der grundsätzliche Wohlstandsgewinn etwa wird von vielen nicht erkannt, weil er in längeren Studien, in Auszeiten oder Teilzeitarbeit versteckt ist. Ebenfalls zu beobachten ist eine langsame, aber dennoch sichtbare Veränderung der Rollen von Frauen und Männern. Vor allem aber erkennt man: Es wird in einer vielfältigen Gesellschaft immer schwieriger, in pauschalen Gruppen zu denken. So hat die zeitliche Belastung zwar insgesamt abgenommen, für Eltern von kleinen Kindern aber gilt das nicht. Oder so gibt es in der Schweiz heute zwar weniger arme Menschen als früher, aber viele alleinstehende ältere Frauen haben dennoch zu kämpfen.

Es ist die grosse Stärke der AHV, dass sie eine pauschale Einteilung in Gruppen gar nicht erst versucht. Sie ist die bedingungsloseste Sozialversicherung der Schweiz und ihr effektivstes Umverteilungssystem. Das ist historisch so gewollt – dazu gleich mehr.

2. So funktioniert die AHV
Wie Sie wissen, funktioniert die Kasse nach dem viel zitierten Umlageverfahren oder «pay as you go», wie das die Briten anschaulicher nennen. Das bedeutet: Niemand von uns spart dort Geld an. Was Sie und ich monatlich abgeben – als Erwerbstätige 8,4 Prozent vom Lohn, je zur Hälfte bezahlt von Arbeitgeberin und Arbeitnehmer –, geht direkt in den Topf für die heutigen Rentnerinnen. Ohne Umweg über die Finanzmärkte, ohne aufwendige Verwaltung. Was am Ende Ihres Erwerbslebens für Ihre Rente zählt, ist hauptsächlich, dass Sie all die Jahre mit dabei waren und Ihre Beiträge bezahlt haben. Ein wenig wie in einem Verein.

Das macht die AHV sicher, effizient und kostengünstig. Es macht sie aber eben auch anfällig für Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, vor allem für die beschriebene steigende Lebenserwartung. Weil sie eben so stark von den Menschen abhängt und nicht von irgendeiner Kapitalentwicklung. In wenigen Jahren, da ist man sich grundsätzlich einig, wird die AHV Verluste schreiben.

Nun kann man das drehen und wenden, wie man will. Geht eine Buchhaltung nicht auf, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: mehr Geld einnehmen oder weniger Geld ausgeben. Am besten beides. Gerade wenn einem diese Institution am Herzen liegt. Doch dazu müssen viele von uns tief sitzende Verletzungen überwinden.

3. Almosen
Zürich im 17. Jahrhundert. «Neben den Alten und Verkrüppelten finden wir vaterlose Familien, die im Elend leben: Ein Zimmermann ist ausgewandert und liess seine Kinder allein. Ein Kriegsknecht ist auf fremdem Schlachtfeld gefallen und ‹lasst seine Frau und Kinder am Hungertuch nagen›.»

So beschreibt ein Historiker die Armut im alten Zürich. Kinder, die noch nie Milch getrunken haben, Witwen, die unter freiem Himmel schlafen, Menschen, die sich von Zweigen und Unkraut ernähren und wie «Tote» oder «Skelette» umhergehen. Die hier beschriebene Krise war das Resultat explodierender Getreidepreise und einer europaweiten plötzlichen Geldentwertung. Doch viele Regionen in der Schweiz, diesem zwischen Bergketten gezwängten Land, brauchten keine Krise für eine Katastrophe. Sie waren bis weit ins 19. oder gar 20. Jahrhundert bitterarm.

Es ist eine Erfahrung, die viele Menschen nicht vergessen haben.

Arme und Alte erhielten Brot, Kleider und manchmal auch ein Dach über dem Kopf als Almosen – eine Wohltätigkeit, mit der gute Christinnen im Mittelalter und danach ihren Wert beweisen konnten. Almosen stammt ab von Elemosyne, dem griechischen Wort für Mitleid – und genau das hat das entsprechende Motiv des Gebens zu sein.

(...)

(09.02.2018)

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